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Foto: Bernd Höfer, Breklum

Kreishaus in der Marktstraße in Husum

19.12.2017

Eingliederungshilfe: Nordfriesisches Modellprojekt stößt bundesweit auf Interesse

»Menschen mit geistigen, körperlichen oder seelischen Behinderungen sind deutlich leistungsfähiger, als viele denken«, stellt Landrat Dieter Harrsen fest. Das ist nicht nur eine persönliche Einschätzung, sondern das Ergebnis eines Modellprojektes, das der Kreis Nordfriesland fünf Jahre lang durchgeführt hat.

Aus dem gesamten Bundesgebiet und selbst aus Österreich erreichen die Verwaltung interessierte Nachfragen. Nordfriesland gilt als Vorreiter bei der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.

Die Kreise sind für die Eingliederung von Menschen mit geistigen oder seelischen Behinderungen in die Gesellschaft zuständig. Hilfemaßnahmen können etwa die Beschäftigung eines Betroffenen in einer Werkstatt für Behinderte, eine Unterstützung in der eigenen Wohnung oder die Übernahme der Kosten eines Wohnheims mit Rund-um-die-Uhr-Betreuung sein.

»Welche Hilfen ein Klient benötigt, entscheidet ein Kreismitarbeiter üblicherweise praktisch allein – wenn auch nach einem Gespräch mit dem Betroffenen. Man wählt aus den in der Region vorhandenen Möglichkeiten etwas aus und prüft nach einiger Zeit, ob die Hilfen sich bewährt haben. Ungefähr so war es bis vor fünf Jahren auch noch bei uns«, erklärt Christian Grelck, der Leiter des Fachdienstes Recht und Soziales der Husumer Kreisverwaltung.

Wille der Klienten im Vordergrund

Im Jahr 2013 jedoch schwenkte der Kreis NF auf ein neues System um: Seitdem stehen der Wille und die Ziele der Klienten und die Nutzung ihrer Selbsthilfepotenziale im Vordergrund. Auch das persönliche Umfeld, zum Beispiel die Familie, wird stärker einbezogen. Und zum dritten werden die Möglichkeiten, die sich in der unmittelbaren Umgebung befinden, zum Beispiel die Nachbarschaft, Initiativen und Institutionen, stärker genutzt. »Wir fragen nicht mehr, was der Klient unserer Ansicht nach braucht, sondern achten viel stärker darauf, was er selbst will und wie sein Umfeld ihn dabei unterstützen kann«, sagt Grelck.

Alle sind zufriedener als vorher

Die Ergebnisse dieser Arbeitsweise haben auch viele Fachleute überrascht. Zu Beginn, in der Mitte und am Ende des auf fünf Jahre angelegten Modellprojektes fragte ein unabhängiger Gutachter alle Beteiligten nach ihrer Bewertung: den Kreis, die Betroffenen und die Einrichtungen der Behindertenhilfe.

»Alle sind zufriedener als vorher: Die Betroffenen finden es gut, dass ihre eigenen Ziele berücksichtigt werden. Die Einrichtungen sehen, dass ihre Klienten sich stärker für ihre Ziele engagieren und selbständiger werden. Und wir beim Kreis freuen uns über persönliche Entwicklungsschritte der Klienten und eine reibungslosere Zusammenarbeit aller Beteiligten«, fasst Kreis-Mitarbeiterin und Projektleiterin Isgard Terheggen zusammen.

Sie hat das Modellprojekt von Beginn an gemeinsam mit Grelck begleitet. Aufgrund der positiven Erfahrungen beschloss der nordfriesische Kreistag, nicht mehr zum alten System zurückzukehren, sondern das Modellprojekt ab 2018 in den Regelbetrieb zu überführen.

»Natürlich ist auch bei uns nicht alles perfekt. Beispielsweise könnte unser Hilfeplanverfahren noch schlanker und schneller werden. Daran werden wir gemeinsam mit unseren Klienten und den Einrichtungen arbeiten«, blickt Isgard Terheggen voraus.

Prinzip Sozialraumorientierung

In der Fachsprache heißt das neue Prinzip Sozialraumorientierung. Ein »Sozialraum« umfasst sowohl die Menschen als auch die Einrichtungen und Angebote im Umfeld des Klienten. Das Kreisgebiet wurde in drei Sozialräume eingeteilt: Nord, Mitte, Süd. »In der Jugendhilfe und bei der Arbeitsvermittlung für Langzeitarbeitslose arbeiten wir schon seit langem nach dem Sozialraumprinzip«, erklärt Landrat Harrsen.

Das Modellprojekt hat dazu geführt, dass in den Sozialräumen neue offene Einrichtungen entstanden sind, die als Begegnungsstätten dienen.

Mit dem Husumer »Eckhus« an der Ecke Schlossstraße/Neustadt wurde eine Inklusions-Einrichtung geschaffen, in der es tagesstrukturierende Angebote, Fortbildungen, Bastelkurse, Näh- oder Spieleabende und diverse Musikprojekte gibt, bei denen Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam musizieren. Ihre Unterstützer sind die Arbeiterwohlfahrt Bredstedt, Arche Unterstütztes Wohnen, Brücke Schleswig-Holstein, Husumer Horizonte, Husumer Insel, Husumer Werkstätten und Land in Sicht.

In Leck wird 2018 ein Beratungsbüro eröffnet, und eine weitere Begegnungsstätte ist mit dem »KunstECK« in Bredstedt geplant.

Über 37 Millionen Euro jährlich

Auch wenn die Verbesserungen für die Betroffenen im Mittelpunkt stehen, hofft die Verwaltung auch im finanziellen Bereich auf zumindest einen kleinen Nebeneffekt. »Die Kosten der Eingliederungshilfe steigen in Schleswig Holstein durchschnittlich um 4,5 Prozent im Jahr. Es sieht so aus, als würden wir langfristig etwas darunter bleiben«, freut sich Verwaltungschef Harrsen.

In Nordfriesland beziehen über 1.600 Menschen Leistungen der Eingliederungshilfe. Mit über 37 Millionen Euro gehört dieser Bereich zu den größten Ausgabeposten im Kreishaushalt. Bundesweit beliefen sich im Jahr 2016 die Aufwendungen für die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung auf knapp 18 Milliarden Euro. Davon entfielen auf Schleswig-Holstein 710 Millionen Euro.